In den meisten Lehren wird darauf hingewiesen, wie schädlich das Urteilen für unsere spirituelle Entwicklung ist. Gemeint sind zumeist negative Urteile und Bewertungen über andere Menschen. Doch was steckt wirklich dahinter, was hat es mit dem Urteilen auf sich?
Das Urteilen ist im Prinzip so etwas wie die Grundfunktion unseres Verstandes. Ur-Teilen bedeutet tatsächlich wortwörtlich von Beginn an teilen, im Sinne von trennen. In dieser Welt scheint es fast unmöglich zu sein, nicht zu urteilen. Urteilen bedeutet einschätzen, bewerten und aufgrund dieser Bewertung entscheiden, was man sagt und was man tut. Das Urteilen scheint die Grundlage allen Handelns zu sein.
Das Problem dabei ist, dass dieses Urteilen und Bewerten Abgrenzung und Trennung zur Folge hat, zumindest in unserem Geist, und das fühlt sich gar nicht gut an, wenn man da mal tiefer hineinspürt. Es ist uns nur derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass es uns gar nicht mehr auffällt. Es ist so normal und selbstverständlich, ständig zu urteilen, und so spüren wir die Unzufriedenheit tief darunter gar nicht mehr. Wie eine Wohnzimmeruhr, deren Ticken man nicht mehr hört, weil sie seit Jahren permanent tickt.
Warum also urteilen wir ständig? Weil wir Recht haben wollen. Warum wollen wir Recht haben? Weil es unsere separate Identität bestätigt und festigt. Wenn ich Recht habe, muss irgendjemand anderes Unrecht haben. Und von dem kann man sich abheben und auch über ihn erheben.
Ich habe mich auch dabei ertappt, dass ich über andere urteile, weil ich bei diesem kranken Spiel mitspielen will. Die ganze Welt scheint es zu spielen, und so wollen wir dazugehören. Ansonsten wären wir ja Außenseiter. Im Urteilen können wir uns mit Gleichgesinnten solidarisieren, um über die Nicht-Gleichgesinnten zu urteilen, über sie herzuziehen, um sich über sie lustig zu machen oder sich aufzuregen.
Wenn wir “richtig” urteilen, können wir Beifall und Wertschätzung erhalten. Die Gespräche bleiben ständig im Fluss. Es würde sehr viel an Gesprächsstoff wegfallen, wenn wir nicht mehr urteilen würden. Wir wären viel öfter still und schweigsam.
Selbst wenn wir positiv urteilen, bestärken wir damit auch nur das Prinzip der “Besonderheit”, so wie der Kurs diesen Begriff definiert. Besonderheit geht aus dem Gedanken der Trennung hervor und bestärkt wiederum das Gefühl der Trennung.
Wie aber können wir es schaffen, mit dem Urteilen aufzuhören – zumindest weitgehend? Zunächst indem wir beherzigen, was der Kurs uns sagt, nämlich dass wir gar nicht urteilen können. Denn wir können niemals alle Umstände wissen und berücksichtigen, die zu einer bestimmten Situation geführt haben.
Wir wissen nicht wirklich etwas über den anderen. Alles sind nur vage Spekulationen. Das einzige, was sicher ist, ist, dass der andere im Kern so rein und unschuldig ist wie wir selbst. Alles Äußere ist trügerischer Schein.
Und dann können wir uns beobachten und tief in uns hineinspüren, wie das Urteilen in Wahrheit schmerzt und Unwohlsein hervorruft. Tief in uns lauert das Schuldgefühl, und es wird durch das Urteilen verstärkt. je mehr wir das beobachten, je schneller wir dem Ego auf die Schliche kommen, desto eher können wir uns anders entscheiden: Gegen das Urteil und für den Frieden bzw. die Liebe. Der Kurs sagt uns: “Du hast keine Ahnung von der außerordentlichen Befreiung und dem tiefen Frieden, die eintreten, wenn du dir selber und deinen Brüdern völlig ohne jedes Urteil begegnest”. (T-3.VI.3:1)